Leseprobe – Prolog

Jabe Malter und seine Männer erreichten Dundon im Morgengrauen, gerade als sich der Schleier der Nacht endgültig zurückzog und nicht länger verbarg, dass sie zu spät kamen. Verkohlte, wie Skelettfinger in die Höhe ragende Balken hießen sie an der Stelle willkommen, wo am Vortag noch ein Dorf gestanden war. Jabe trat seinem Pferd in die Flanken.

„Loreena! Loreena!“ Sein Ruf gellte hinweg über verbranntes Gras. Körper lagen am Boden verstreut wie von einem Karren verlorene Mehlsäcke. Verrußte Lumpen flatterten träge im Wind und zeigten beinahe verstohlen, was darunter lag. Der Geruch des Todes hing schwer in der Luft.

„Loreena!“, schrie er und sprang ab.

„Bei Nefem!“, keuchte Borros und zeichnete mit dem Daumen einen Kreis auf die Brust. Laycee schaffte es rechtzeitig aus dem Sattel, ehe er sich übergab.

Jabe lief los. Das Knirschen von Stiefeln auf Asche betonte die Unwirklichkeit des Anblicks: Das konnte, das durfte nicht sein!

„Jabe, warte!“, rief Alwart, der ihm nachlief. In dem Moment brach eine Hütte zusammen. Funken stoben hervor, und der Wind fachte die Glut an. „Das ist zu gefährlich.“

Al, ein stämmiger Bursche, griff nach seinem Arm, doch Jabe schüttelte ihn ab. „Wir sind ihretwegen hier, und du sagst, es sei zu gefährlich?“

Die beiden Männer starrten einander an. Alwart war sein engster Vertrauter und sein Freund, der mehr Verstand besaß, als man seinem groben Gesicht beimaß, und er trug das Herz am rechten Fleck. Meistens zumindest. Nicht selten schaffte er es, mit Zuversicht ihre Ritterschaft, wie sie sich nannten, zusammenzuhalten, aber Al war nicht der Anführer.

Also gab sein Freund nach und nickte. „Dann pass wenigstens auf deinen Arsch auf. Ich habe keine Lust, dich neben den Dörflern zu begraben“

Jabe musterte seine Gefolgschaft. Fünfzehn Männer scharten sich um ihn, die sich hatten anlocken lassen von Legenden und Erzählungen. Bloß eine Handvoll davon stammte aus seiner Heimat, der Rest hatte sich ihm auf der Reise angeschlossen. Sie alle waren einfache Menschen; Borros‘ Vater hütete Schweine, Alwart kam aus einer Holzfällerfamilie und Laycee hatte in Turmwachts Stadtwache gedient. Sie alle hatten ihr einfaches Leben für eine Sache hinter sich gelassen, an die sie genauso glauben wollten wie Jabe. Jetzt sah er in ihren Gesichtern Unglauben, Ekel und Furcht, und schlimmer noch fürchtete er, all diese Empfindungen wiederzuspiegeln. Was auf Nuarnu war hier geschehen?

„Wir werden sie suchen“, sagte er, bemüht um eine feste Stimme.  „Wir werden sie finden.“

Es war Al, der die Männer in Gruppen einteilte und sie losschickte. Nur der Junge blieb übrig.

„Winf“, sagte Jabe, „du kommst mit mir.“

Der Junge, gerade einmal zwölf Jahre alt, stierte mit großen Augen auf das, was von Dundon übriggeblieben war. Gerne hätte Jabe ihm gesagt, dass er keine Angst zu haben brauchte, doch es reichte nur für eine Hand, die er auf Winfs schmale Schulter legte. Zu den abgebrannten Hütten hielten sie genauso Abstand wie zu den Leibern, nach denen sich der Junge stets umblickte – so als könnten sie gegen ihr Schicksal aufbegehren, sich wieder erheben.

Bei dem Körper eines Mädchens blieb er stehen. Jeina war ihr Name, erinnerte er sich. Vor vier Tagen hatte sie einen Blumenkranz geflochten, als Geschenk für Loreena. Nun waren sowohl ihr blaues Kleid als auch ihre Haut verbrannt, und aus ihrem Rücken ragten zwei Pfeile. Jabe rang um Fassung.

Du bist hier sicher, hatte er Loreena versprochen. Bleib hier, bis du entbunden hast. Loreena hatte ihn vor der Gefahr gewarnt, die sie bedrohte, doch in seiner Arroganz hatte er geglaubt, es besser zu wissen.

Dundon war kaum wiederzuerkennen. Jabe hielt Ausschau nach dem Haus des Liaars, des Dorfältesten, doch ein verkohlter Bretterhaufen sah aus wie der andere. Er irrte umher, stolperte, sank schließlich auf die Knie.

„Loreena“, schrie er, „wo bist du?“

Winf sah ihn mit geweiteten Augen an. Jabe wollte den Jungen nicht noch mehr ängstigen, also atmete er durch und stand auf. Sein Blick fiel auf einen Haufen schwelender Balken, der sich höher auftürmte als die umliegenden. Das musste das Haus des Liaars gewesen sein. „Komm“, sagte er zu dem Jungen.

Er rief zwei weitere Männer zu sich, die sich an der Hütte nebenan zu schaffen machten. Gemeinsam brachten sie die verkohlten Wände vollends zum Einsturz, und es kamen noch weitere hinzu, die halfen, die glosenden Holzteile Stück für Stück abzutragen. Jabe trieb sie an, doch sie mussten immer wieder zurückweichen, wenn sich das Feuer in einem kurzen Anflug von Widerspenstigkeit neu entfachte.

„Was tust du hier, Jabe?“, hörte er plötzlich Alwart hinter sich.

„Das ist das Haus des Dorfältesten, und Loreena war sein Gast.“

„Falls sie da drinnen ist, dann …“

„Es gibt einen Vorratskeller“, erwiderte Jabe hartnäckig.

Al schüttelte den Kopf. „Das ist doch sinnlos.“

Jabe warf das Brett, das er in Händen hielt, in hohem Bogen weg. „Du bist schnell darin, die Hoffnung aufzugeben, Al!“

„Die Bauern sind in den Wald geflüchtet“, fuhr Al fort, so als hätte Jabe nichts gesagt. „Ich habe Milt und Henif hinterher geschickt. Falls wir Überlebende finden, dann dort. Bestimmt ist –“

„Jabe! Komm her!“

Die Männer hatten eine Luke freigelegt. Sie stand offen, Rauch qualmte daraus hervor. Ein widerwärtiger Gestank schlug ihm entgegen, der ihm den Hals zuschnürte.

„Bei Nefem!“, keuchte er. Dennoch zögerte er nicht, in den Keller hinabzuspringen. Asche wirbelte auf und brachte ihn zum Husten. Das Feuer hatte hier ebenso gewütet, es hatte in den Fässern und Säcken reichlich Nahrung gefunden. Mit einem besorgten Blick auf die Dielenbretter über ihm, die grimmig knarzten, wagte er sich in die hinteren Lagerräume. Wenn er nicht achtgab, wurde das hier zu seinem Grab.

Seine Füße stapften durch aufgeweichten Lehm, und der süßliche Geruch nach Met mischte sich unter den Gestank, der im hintersten Winkel unerträglich wurde. Mit der Hand schirmte er seine Augen vor herabrieselndem Staub ab. Dünne Sonnenstrahlen fielen durch die Ritzen, und inmitten eines zerfallenen Stapels Kisten fand er sie.

Nicht dass er sie erkannte. Ihre Überreste zeichneten sich im fahlen Licht nur undeutlich ab, ihre geschwärzte Haut war an vielen Stellen aufgeplatzt, und er vermied es, in ihr von Flammen entstelltes Gesicht zu schauen. Trotzdem wusste er, dass Loreena vor ihm lag. Liaar Beordorff hatte sie in der Vorratskammer versteckt, um sie zu schützen, und hatte sie dabei nur ihrem Verderben ausgeliefert.

Nach Luft ringend schlug sich Jabe die Hand auf den Mund. Trauer schnürte ihm den Brustkorb zusammen, gab ihm das Gefühl zu ersticken. Seine Knie zitterten.

Neben Loreenas Leiche entdeckte er ein Bündel. Verbrannte Stoffreste verdeckten es zum Teil, dennoch stach die rosa Haut darunter zwischen all dem Grau und Schwarz hervor. Jabe bückte sich, hob es auf und ging damit zurück zur Lucke.

Tränen zogen helle Furchen auf seinen aschgrauen Wangen. War durch seinen Fehler alles verloren, die Wiedergeburt des letzten Drachen vereitelt? Die Mutter des Drachen hatte ihn, den Erben, gerufen, und er war gekommen. Was hatte es ihr gebracht? Loreena und ihr Sohn waren tot, und eine Legende war mit ihnen gestorben.

Er hievte das Bündel nach oben, und jemand befreite ihn von dieser Last.  Al bot ihm einen Arm an, doch er zögerte. Welches Recht nahm er für sich in Anspruch – weiterzuleben, wo sie es nicht tat?

„Worauf wartest du?“, rief Al ihm zu. „Wenn du da unten verreckst, macht das die Welt nicht besser.“

Jabe griff zu.

Jeder Mann stand mittlerweile bei der abgebrannten Hütte des Liaars. Winf, der den toten Säugling hielt, sah ihn an, als verstünde er nicht. „Ist das das Ende unserer Hoffnung?“, fragte er mit dünner Stimme.

Das Tageslicht gab preis, was die Düsternis des Kellers verborgen gehalten hatte. Das Feuer hatte den winzigen Körper verschont, doch eine Wunde, offensichtlich von einem Schwerthieb, teilte den Torso beinahe in zwei Hälften.

Was konnte er seinen Gefolgsleuten sagen, jetzt, da das Leben, das zu beschützen sie geschworen hatten, erloschen war? War nicht die Gewissheit der Tod der Hoffnung?

Alwart legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter. „Wickle das Kind ein und verwahre es.“ An alle gewendet fuhr er fort. „Sammelt euch bei den Pferden. Wir suchen den Wald ab. Das hier“ – er deutete auf das Bündel – „ist nicht das, wofür wir es halten. Dieses Kind ist nicht verbrannt, sondern erschlagen worden. Er muss nach dem Brand in den Keller gelegt worden sein, um diejenigen zu täuschen, die ihn finden sollten.“

Unfähig zu reagieren sah Jabe Winf hinterher, wie er mit den Männern zum Sammelplatz ging. War es so einfach? Hatte er sich in die Irre führen lassen, und falls ja, zu welchem Zweck?

Al erkannte seinen Zweifel. „Es gibt keine andere Erklärung, Jabe. Dieses Kind ist nicht der Drache. Siehst du das nicht?“ Er strotzte vor Zuversicht.

Jabe teilte diese Meinung nicht; was aber konnte er dem entgegensetzen? Er wollte sich abwenden, doch Alwart griff nach seinem Arm.

„Loreena?“

Jabe schüttelte den Kopf.

„Bist du sicher?“

„Steig hinab, doch ich warne dich.“

„Ich weiß, was du für sie empfunden hast. Es tut mir leid.“ Al ließ ihn los und ging ebenfalls zu den Pferden.

Ist das das Ende unserer Hoffnung?, hatte Winf ihn gefragt. Er erschauderte. Was ist aus Jabe Malter geworden, dem Anführer der Ritterschaft der Hoffnung?, fragte er sich. Hatte er nicht zuvor Alwart mangelnden Glauben vorgeworfen? War sein Fundament so leicht zu erschüttern? Ihm blieb nichts anderes übrig, als Al zu folgen.

„Milt meint, dass die Bauern nicht bis in den Wald verfolgt wurden“, sagte Al. „Von wem auch immer. Was ist hier passiert, Jabe?“

Er zuckte mit den Schultern. „Loreena hatte erzählt, dass sie in Gefahr ist, und dass nur ich ihr helfen kann.“

„Bei Nefem, das kann doch nicht alles sein! Du hast uns bis hierher geführt, hättest uns beinahe in den Tod geführt!“

Jabe griff unvermittelt an sein Hemd und umfasste den Gegenstand, der darunter ruhte. „Ich hätte hier sein sollen. Verstehst du? Niemand hätte sterben müssen, niemand!

„Warum bist du dir dessen so sicher?“ Al gab ein abfälliges Brummen von sich. „Falls du mir etwas verschweigst, jage ich dich persönlich auf Nuarnu!“

„Es geht nicht darum, was ich dir verschwiegen habe. Loreena hätte noch vieles zu erklären gehabt.“

Alwarts Blick fiel auf Jabes Hemd. „Das Amulett?“

Er antwortete nicht, sondern blieb bei einer Leiche stehen – der einzige Tote, der ein Kettenhemd trug. Hätte er auch einen Helm getragen, hätte er vielleicht überlebt. „Ich sollte hier liegen.“ Gemeinsam mit Saleth hatte Jabe Dundon erreicht und Loreena gefunden. Alles wäre anders gekommen, hätte sie dieser einäugige Gaukler nicht im Kreis geschickt, auf Nuarnu mit ihm! So aber war er nach Ludbourg, dem vereinbarten Treffpunkt zurückgeritten, um die restlichen Gefährten zu holen.

„Ein tapferer Mann“, sagte Al. „Wir werden ihn begraben.“

„Später. Erst suchen wir nach Überlebenden.“

Sie ritten in einen hellen Birkenwald, in dem sie gut vorankamen. Zahlreiche niedergestreckte Körper lagen zwischen den Bäumen verstreut, doch je tiefer sie eindrangen, desto weniger fanden sie.

Alwart deutete auf Fußabdrücke. „Hier ist jemand gelaufen.“

„Nicht alle konnten noch laufen“, erwiderte Jabe und zeigte dabei auf Schleifspuren und getrocknetes Blut. Sie würden diejenigen finden, die fliehen konnten, soviel stand fest; und hoffentlich auch die eine oder andere Antwort.

Es ging stetig bergauf, der Wald verdichtete sich zusehends. Immer mehr Männer saßen ab, um besser voranzukommen. Die Sonne durchdrang das Geäst kaum, und in den Schatten verloren sie nicht bloß einmal die Fährte. Erst als die Bäume einem abschüssigen Geröllfeld wichen und eine zerklüftete, gut fünfzig Fuß hohe Steinwand vor ihnen aufragte, endeten die Spuren endgültig.

Die Felswand war spärlich bewachsen mit Gräsern und dornigem Gestrüpp, doch auch Kiefern nutzten jeden möglichen Fleck, um sich auszubreiten. Bei genauerem Hinsehen konnte Jabe einen Pfad ausmachen, der über Vorsprünge und Risse im Felsen bis nach oben führte. Ein geübter Kletterer fand problemlos einen Weg hinauf, doch für fliehende, teils verletzte Bauern, noch dazu für Kinder, Frauen und Alte, war sie ein unüberwindliches Hindernis. Der steinige Hang war zu unwegsam, als dass ihn Verwundete bewältigen konnten, doch die Dorfbewohner kannten die Gegend, sie wussten, wohin sie flohen …

Sein und Alwarts Blick trafen aufeinander, vermutlich waren sie zum selben Schluss gekommen. „Sucht die Felsen genau ab“, rief er. „Da muss eine Höhle sein!“

Es dauerte nicht lange, bis einer der Männer den Arm hob und ihnen zuwinkte. „Bret?“, wunderte sich Al. „Er kann doch sonst kaum seinen rechten vom linken Stiefel unterscheiden.“

„Hier! Da ist ein Spalt!“ Gemeinsam mit Borros stand Bret ein gutes Stück hangaufwärts. „Und Blutspuren!“

Al lächelte. „Siehst du, Jabe: Unsere Hoffnung hat uns hierher geführt. Es ist nicht alles verloren. Wir bringen den Überlebenden Rettung.“

Jabe sah in Alwart seinen besten Freund, doch nicht zum ersten Mal schien es ihm, als lebten sie in verschiedenen Welten. „Bist du auf das vorbereitet, was uns da drinnen erwartet?“ Ohne eine Antwort abzuwarten ging er an Bret vorbei und schlüpfte in den Spalt.

Jabe verharrte, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, dann zwängte er sich durch eine enge Passage. Ein Lichtschein vor ihm löste das Tageslicht ab, und er ging darauf zu. Al folgte ihm fluchend, ebenso wie Bret.

Plötzlich hörte er ein Scharren. Instinktiv zog er sein Kurzschwert und hielt es in einer Abwehrhaltung vor sich, ehe Holz auf Stahl traf und splitterte. Der Angreifer zog sich in eine dunkle Nische zurück. „Verschwindet!“, schrie eine Stimme. „Lasst uns in Ruhe!“ Es war die Stimme eines Kindes.

„Jabe, was ist da vorne los?“ Alwart befand sich nur wenige Schritte hinter ihm, doch es war zu eng, als dass er ihm hätte zu Hilfe eilen können.

Jabe spähte in die Nische. Ein Augenpaar starrte ihn an, der Atem seines Besitzers kam stoßweise. „Es ist nur ein Junge!“, rief er. Zu dem Kind sagte er: „Es ist alles in Ordnung. Niemandem wird etwas geschehen. Wir sind hier, um … um euch zu helfen.“ Er streckte dem Jungen eine Hand entgegen, doch der schlug sie knurrend aus.

Ihm wurde bewusst, dass er immer noch das Schwert in Händen hielt, und steckte es weg. „Ist gut, ist schon gut“, sagte er und lies das Kind hinter sich.

In dem Höhlengewölbe vor ihm waren die Schreie nicht ungehört geblieben. Ein offenes Feuer, dessen Rauch von Rissen im Felsen darüber aufgesogen wurde, beherrschte den Raum. Im Kreis darum kauerten Männer und Frauen, zumeist alte, und viele von ihnen trugen notdürftige Verbände aus Streifen zerrissener Hemden oder dem Saum von Kleidern. Kinder versteckten sich hinter den Schürzen ihrer Mütter. Einige weinten, die meisten jedoch sahen ihn ausdruckslos an, manche sogar vorwurfsvoll. Die Blicke der Alten klebten mutlos am lehmigen Boden. Jabe erinnerte sich an keines der Gesichter.

Auf der anderen Seite, von wo aus sich ein weiterer Gang ins Innere des Hügels fortsetzte, stand ein Mann, der die Ankömmlinge kurz musterte und sich dann an ihn wendete. „Ihr seid Jabe Malter?“

Jabe nickte. Das Gesicht des Mannes war pockenvernarbt und ließ ihn älter erscheinen, als er tatsächlich sein mochte. Er konnte sich nicht erinnern, ihn vor vier Tagen in dem Dorf gesehen zu haben.

Liaar Beordorff hat gesagt, dass Ihr kommen würdet.“

„Was ist geschehen?“, fragte Jabe.

„Ihr solltet mir besser folgen“, sagte der Mann. Er deutete mit der Hand auf den Durchgang, fast ein wenig zu gefällig, ging jedoch selbst voran.

„Warte hier“, sagte Jabe zu Bret, während er und Al in dem Gang verschwanden. Wortlos passierten sie weitere Höhlenräume. Fackeln an den Wänden warfen ihr Licht auf die Menschen, die dort saßen oder lagen. Die leeren Augen einer jungen Frau streiften Jabe; der Verband an ihrem Arm war blutgetränkt. In einer felsigen Kuhle lag ein Mann, schweißgebadet und zitternd. Der Geruch nach Moder und Angst hatte sich hier festgesetzt.

In der hintersten Kammer lag Beordorff, aufgebahrt auf einem behelfsmäßigen Bett aus Zweigen und Blättern. Er schien zu schlafen. Der Mann, der sie hergeführt hatte, kniete sich neben ihm nieder, stand jedoch sogleich wieder auf.

„Der Liaar kann im Moment nicht mit Euch sprechen. Er ist fiebrig und wechselt ständig von einem dämmrigen Wachzustand in einen unruhigen Schlaf.“

Jabe hielt sich die Hand vor die Nase und würgte. „Bei den Geistern Nuarnus!“, fluchte Alwart angewidert.

„Der Leichbrand“, sagte der Mann, der mit keiner Geste zeigte, dass der Gestank bei ihm Übelkeit hervorrief. „Wahrscheinlich wird er die nächste Nacht nicht überleben.“

Jabe ging an die Liegestatt des Liaars und erkannte die Wahrheit hinter den Worten des Mannes. Beordorffs rechter Arm fehlte. Der Stumpf war zwar abgebunden, aber die Wunde war dreckverkrustet. Jabe sah keinerlei Gefäße mit Kräutern oder Tinkturen. Wenn sie wenigstens Mohnblumenessenz gegen die Schmerzen hätten, dachte er. Er trat wieder zurück, und zusammen verließen sie die kleine Kammer.

„Wie heißt Ihr?“, fragte er den Mann.

„Mein Name ist Roise.“

„Ihr seid nicht von hier“, sagte Jabe. „Woher kommt Ihr?“

„Dundon ist mein Heimatdorf. Ich bin viele Jahre … weg gewesen und erst vor zwei Tagen zurückgekehrt.“

Jabe bemerkte die Unsicherheit, aber er überging sie. Roise gab sich beherrscht, gerade so, als nähme er nicht teil am Schicksal der Dorfbewohner, an deren Leid. Seine Stiefel waren staubbedeckt und seine Hose war blutbespritzt, doch der Umhang, den er trug, war von guter Qualität und keinesfalls die Kleidung eines Bauern. Seine Hände wussten bestenfalls, wie man das Wort Feldarbeit schrieb. Jabe traute ihm nicht.

„Ihr scheint mir unverletzt zu sein“, sagte er.

„Als gestern Reiter gekommen sind“, erzählte Roise, „sind die Kinder ihnen entgegengelaufen, weil der Liaar gesagt hat: ‚Schaut, da kommt Jabe Malter.‘ Aber Ihr seid es nicht gewesen. Ein Pfeilhagel ist auf uns niedergegangen, und Liaar Beordorff hat der Frau zugerufen, sie solle ihren Sohn nehmen und sich in der Vorratskammer verstecken.“

Jabe hörte, wie Al schnaufte. „Redet weiter“, sagte er.

„Einige der Männer haben sich den Plünderern entgegengestellt. Das hat gerade für unsere Flucht in den Wald gereicht. Die Plünderer haben uns verfolgt, aber nicht allzu weit.“

„Habt Ihr die Angreifer erkannt?“, fragte Jabe.

Roise schüttelte den Kopf. „Ich habe erst geglaubt, es wären einfache Plünderer. Aber …“ Er zuckte mit den Schultern.

Loreena hat um die Gefahr gewusst, dachte Jabe. Aber was weiß Beordorff?

„Warum zweifelt Ihr daran, dass es Plünderer waren?“, fragte Al.

„Wegen des Ritters“, sagte Roise. „Eine blaue Rüstung hat der getragen, wie ich sie noch nie gesehen habe. Und sie hat gestrahlt, so als würde die Sonne nur auf sie scheinen. Aber …“ Roise schüttelte den Kopf abermals. „Aber sie hat von selbst gestrahlt. Könnt Ihr Euch das vorstellen? Welches Metall muss das sein, das von selbst leuchtet?“

Weder Jabe noch Alwart wussten darauf eine Antwort. „Was ist mit Beordorff geschehen?“, fragte Jabe.

„Den Liaar haben wir später vor seinem brennenden Haus gefunden“, sagte Roise, „als wir in den Abendstunden zurückgekehrt sind. Er ist einer der wenigen Überlebenden, und wie es ihm geht, seht Ihr ja. Sie müssen ihn von seinem Haus weggezerrt und dabei seinen Arm abgeschlagen haben. Bei Nefem, wenn ich nur daran denke!“ Mit dem Daumen zeichnete er einen Kreis auf seine Brust.

In dem Moment drang ein leises Stöhnen aus der kleinen Kaverne, durch den Widerhall der Felswände unheimlich verzerrt. Der Kopf des Liaars bewegte sich, und Roise eilte zu ihm. Jabe und Al folgten ihm.

Liaar Beordorff“, sagte Roise, „Jabe Malter ist hier.“

„Malter?“ Die Stimme des Alten war bloß ein Krächzen, kaum verständlich. „Ihr seid zurück.“ Speichel rann aus seinem Mund und verfing sich in grauen Barthaaren.

Jabe kniete neben der Liegestatt nieder. Al tat es ihm gleich.

„Habt … habt Ihr sie gefunden?“, fragte der Liaar.

„Ja, das haben wir“, antwortete Jabe.

„Ein … trauriger Tag.“

Roise füllte einen Becher aus einem Krug mit brackigem Wasser und setzte ihn Beordorff an die Lippen. Nach einem Schluck fuhr dieser fort. „Das Kind … ihren Jungen … habt Ihr ihn …?“

Jabe nickte. Als er bemerkte, dass der Liaar ihn nicht sah, sagte er: „Ja.“

„Ist er … verbrannt?“

„Er ist tot, Liaar Beordorff. Sie sind beide tot.“ Beinahe versagte seine Stimme.

Alwart schnaufte erneut, stand auf und verließ die Kaverne.

„Euer Freund ist … ein stolzer Mann.“

„Alwart ist stark“, sagte Jabe. „Er hat den Männern Hoffnung gegeben, wo ich es nicht konnte.“

Ein Hustenanfall schüttelte den Liaar. „Ihr seid der Erbe … Jabe. Vergesst das … nicht.“

„Diese Bürde – ich habe sie mir selbst auferlegt. Das wisst Ihr, alter Mann. Wieso kann ich sie nicht wieder ablegen? Meine Männer werden mir nicht weiter folgen, wenn sie erst die Wahrheit erfahren.“

„Wahrheit?“ Beordorff röchelte; es sollte wohl ein Lachen sein. „Hoffnung! Lasst es … mich Euch zeigen. Habt Ihr … den Säugling?“

„Al!“, rief Jabe. Er wusste nicht, ob der Liaar noch bei Verstand war, doch in seiner Stimme lag etwas Dringliches. „Schick Winf herein! Mit dem toten Kind! Mach rasch!“

Beordorff verlor das Bewusstsein, doch er zuckte und stöhnte wiederholt. Unruhige Träume mussten es sein, in denen Schatten und Ghule umherwanderten. Jabe stand auf und ging aus der Höhlenkammer. Draußen erwartete ihn Roise, der ihn fragend ansah.

„Er schläft jetzt“, sagte Jabe.

Der Bursche nickte bloß, dann drohte sich Schweigen auszubreiten.

„Werdet Ihr Dundon wieder aufbauen?“

Aufbauen?“ Spöttisch spuckte Roise dieses Wort aus. „Die meisten Männer sind tot. Die Frauen täten gut daran, sich in den umliegenden Dörfern niederzulassen, und die Alten täten gut daran zu sterben.“

Ungläubig starrte Jabe den Burschen an. „Eure Worte sind eine Beleidigung in den Ohren Nefems! Bestattet eure Toten und seid dankbar für jeden, der überlebt hat.“

„Dann seht Euch doch um, Malter! Geht zu den Verwundeten und sagt ihnen das ins Gesicht!“ Roise machte eine abfällige Handbewegung, öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder.

„Gebt Euch nicht Eurer Wut hin“, sagte Jabe. „Wir können euch helfen, die Toten zu bestatten, aber einander Halt geben müsst ihr schon selbst.“ Denn die Hoffnung auf bessere Tage ist alles, was euch geblieben ist, dachte Jabe.

Roise schüttelte den Kopf. „Dundon ist schon lange nicht mehr meine Heimat.“

In dem Moment kehrte Alwart zusammen mit Winf zurück, der das Bündel trug. Jabe nahm ihm den toten Säugling ab. „Lauf zurück und sag den Männern, sie sollen den vierten Teil ihrer Ration rausrücken. Und Henif soll dir seinen Beutel mitgeben.“ Sie hatten niemanden bei sich, der sich aufs Heilen verstand oder sich gut mit Kräutern auskannte, aber Henif hatte immer ein paar Dinge bei sich, die nützlich sein konnten. Jabe hoffte, dass nicht nur Knoblauch darunter war, der gegen Warzen half. „Bring den sofort herein. Alle anderen sollen draußen bei den Pferden bleiben.“

Winf eilte davon, und Jabe wurde sich des Gewichts in seinem Arm gewahr. Der Leichnam wog beinahe nichts, doch für den Tod zu viel. Hielt er tatsächlich den letzten Drachen in Händen?

Er bemerkte, dass Roise das Bündel anstarrte. Der Bursche fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Deswegen ist Dundon zerstört worden, ja?“ So viel Bitterkeit lag in dieser Stimme, dass Jabe darauf nichts zu erwidern wusste.

Gemeinsam mit Al ging er zurück in die Kaverne, in der Liaar Beordorff auf seine Erlösung wartete. Roise folgte ihnen, blieb jedoch stehen, als sich die beiden Männer wieder hinknieten. Beordorff stöhnte und röchelte; Alwart hielt sich die Nase zu, auch wenn es nichts half. Jabe griff nach Beordorffs verbliebener Hand und drückte sie. Der Liaar durfte nicht sterben. Noch nicht.

Nach einiger Zeit reagierte der Sterbende auf den Händedruck. Er schlug seine Augen auf, die von einem matten Schleier überzogen waren.

„Alles meine Schuld“, krächzte der Liaar kaum hörbar, „meine Schuld. Sie … sie hätte sich nicht verstecken dürfen …“

Roise trat heran und gab dem Liaar einen weiteren Schluck Wasser. Der Alte hustete Blut. „Das Kind … wo … ich muss es sehen.“

Jabe stand auf und kam der Bitte nach. Beordorff streckte seinen Arm nach dem Leichnam aus, doch er war zu schwach, und der Arm fiel wieder herab. „Die Wunde …“

Jabe schlug den Stoff zurück.

„Schaut sie Euch an … genau …“

„Die Wunde ist weniger schwer zu übersehen als der Umstand, dass es sich dabei um ein Kind handelt“, erwiderte Alwart brüsk. „Woher sollen wir wissen, ob das der Drache ist, alter Mann? Der Drache kann genauso gut noch am Leben sein. Der Drache muss noch am Leben sein!“

„Werft ihn ins Feuer … Jabe.“ Beordorffs linke Hand winkte kraftlos. „Macht schon.“

Erst war Jabe verwundert. Der Gestank der Kranken und Verwundeten war schon stark genug, mussten sie jetzt auch noch Fleisch verbrennen? Doch plötzlich leuchtete ihm die Aufforderung ein: Das Element des Drachen war das Feuer – er konnte nicht brennen!

Er nahm eine Fackel von der Wand und hielt sie an den toten Säugling. Rauch stieg von der Fackel auf, der Stofffetzen glimmte. Weder bildete sich eine Brandblase auf der Haut noch kräuselte sich ein feines Härchen.

Alwart begann zu würgen.

Jabe steckte die Fackel zurück in ihre Verankerung. „Feuer kann … ihm nichts anhaben“, sagte Beordorff, „trotzdem ist … der Drache tot. Die Wunde …“

Jabe erkannte, was der Liaar meinte: Dort, wo die Wunde den Körper teilte, waren Blasen zu sehen. „Welche Waffe kann so etwas anrichten?“ Er stellte die Frage laut, wenn auch an niemand bestimmten gerichtet.

Der Liaar hustete mehrmals. „Habt Ihr jemals … Erfrierungen gesehen?“

Erfrierungen, überlegte Jabe. Ja, auch sie können Blasen verursachen. „Nicht Feuer hat dieses Kind getötet, sondern Kälte.“

Beordorff drohte, in einen Dämmerzustand zu entgleiten, doch im nächsten Moment riss er wieder die Augen auf. „Hört zu … Jabe. Ihr müsst … nach Lonebrüggen …“ In dem Moment versagten seine Kräfte.

Jabe berührte Beordorffs Stirn. Der Alte wurde zusehends schwächer.

„Lonebrüggen?“, wiederholte er laut. Alwart zuckte mit den Schultern, und Roises Gesicht war seltsam angespannt.

Nach kurzer Zeit erlangte Beordorff sein Bewusstsein wieder. Er sprach, doch zu undeutlich, als dass Jabe ihn hätte verstehen können. Nur wenige Wörter kamen klar und deutlich über seine Lippen.

„Was soll das bedeuten – Zwillingsschwester?“ Roise war genauso überrascht wie Jabe, vielleicht sogar noch mehr.

„Ihr wisst nicht, wovon der Alte spricht?“, fragte Al.

Roise schüttelte den Kopf. „Als Loreena entbunden hat, bin ich noch nicht wieder in Dundon gewesen.“

Jabe runzelte die Stirn; wer war dieser Mann, und woher kam er? „Wie können wir sie finden?“, fragte er stattdessen. Liaar Beordorff reagierte nicht darauf, und Jabe rüttelte an dessen Arm. „Ihr müsst uns sagen, wie wir sie finden können!“

Der Liaar stöhnte vor Schmerz, dann hustete er. „Sie trägt ein Mal … am Rücken … beinahe schon zwischen … zwischen dem Gesäß. Findet sie …“

„Wer weiß von ihr?“, fragte Jabe und ließ dabei Roise nicht aus den Augen. Der junge Mann erwiderte den Blick. In seinem pockenvernarbten Gesicht warf der Fackelschein besonders tiefe Schatten.

„Niemand … weiß von ihr, nur … Loreena … noch in den Wehen, als … ein Mädchen war … weggeben, damit es in Sicherheit ist. Sie hat der Hebamme Gold … einen Ort … Lonebrüggen …“

„Wo ist dieses Lonebrüggen?“

Doch der Alte hatte das Bewusstsein verloren und ließ sich von Jabe nicht mehr wachrütteln. Die drei Männer wachten noch einige Zeit über ihn, dann verließen sie die kleine Kaverne.

„Ich verstehe das nicht“, sagte Alwart.

„Es gibt noch Hoffnung, Al. Ihr werdet nicht bei Euren Leuten bleiben, nicht wahr?“, fragte Jabe Roise

„Ich habe Euch schon gesagt, dass das nicht mehr meine Leute sind“, antwortete Roise.

„Wir reiten zurück in das Dorf, und ich möchte, dass Ihr uns begleitet. Ihr und jeder, der dazu imstande ist.“

„Was sollen wir dort?“, fragte Roise starrköpfig.

„Wollt ihr eure Toten den Aasfressern überlassen?“

Roise blickte auf den felsigen Boden. „Lasst mich noch einmal nach Liaar Beordorff sehen, dann stoße ich zu Euch.“

Jabe nickte. „Ich sammle meine Männer vor der Höhle und warte dort auf Euch. Aber nicht zu lange, versteht Ihr?“

Auf dem Weg hinaus schauten sie erneut in die verdreckten und verzweifelten Gesichter von Menschen, die alles verloren hatten. Kaum junge Männer waren unter ihnen, und schon gar keiner, der nicht verwundet wäre. „Ich fürchte, die meiste Arbeit wird an uns hängen bleiben“, sagte Al.

„Das bereitet mir weniger Sorgen als dieser Roise“, entgegnete Jabe.

Al nickte. „Er verschweigt irgendwas. Denkst du, er wird uns Schwierigkeiten machen?“

„Rechnen wir lieber damit.“

Draußen vor der Höhle gab er den Männern den Befehl, sich auf den Aufbruch vorzubereiten. Dann wartete er. Die Männer sprachen wenig und sahen ihn immer wieder an. Er jedoch, der Anführer der Bruderschaft der Hoffnung, wusste nicht, was er ihnen sagen sollte – begann er doch gerade selbst zu begreifen, dass seine Mission noch lange nicht zu Ende war.

Lonebrüggen. Wo auch immer das liegen mochte.

 

*

 

Roise verzog die Nase. Der Liaar stöhnte im Schlaf, seine Lippen bewegten sich ruckartig. Schweiß trocknete auf seiner Haut und bildete salzige Krusten.

Roise setzte sich auf einen Stein. Seine Gedanken kreisten um diesen Malter, um den Drachen und um einige Dinge mehr. Unbewusst strich er über den Dolch, den er unter seinem Umhang versteckt hatte. Dann zuckten seine Mundwinkel in einem traurigen Lächeln nach oben.

Beordorff war bereits alt gewesen, als Roise vor so vielen Jahren dessen Geschichten gelauscht hatte. Harmlose Märchen, und dennoch hatten sie ihn geprägt, seine Entscheidungen beeinflusst. Er empfand Mitleid mit dem Mann, dessen Wissen seine heutigen Mentoren so sehr interessierte, dass sie Roise zurück in sein Heimatdorf geschickt hatten. Und jetzt würde der Liaar das meiste davon mit ins Grab nehmen.

Aber nicht alles.

In der Tasche seines Umhangs ertastete er eine Phiole und zog sie heraus. Mohnblumenessenz gemischt mit Schlafkraut. Er wiegte sie für einen Moment in seiner Hand und steckte sie dann wieder weg. Der Alte konnte ja kaum noch schlucken.

Er stand auf und zog den Dolch – vorsichtig, obwohl niemand da war, der ihn hätte sehen können. Mit angehaltenem Atem beugte er sich über den Liaar. Dieser Malter wusste nicht mehr als er selbst, im Gegenteil. Er hatte bereits befürchtet, sich Malters Truppe anschließen zu müssen, aber der Mann traute ihm nicht. Das spürte er. Vielleicht hätte er seine Gefühle besser kontrollieren sollen.

Beordorffs Lippen bewegten sich, ohne einen Ton von sich zu geben. Ob er Schmerzen hatte?

Roise zögerte. So hätte es nicht enden müssen. Er verstand die Dinge nicht, die in den letzten Tagen vor sich gegangen waren. Erst Loreena, diese zum Leben erwachte Legende. Dann der fremde Angreifer in seiner leuchtenden, blauen Rüstung. Und zu allem Übel auch noch Jabe Malter mit seinen Rittern der Hoffnung. Ein Haufen Spinner.

„Verzeiht mir, Liaar“, sagte er, kaum hörbar, und hob den Dolch. Er schloss die Augen. Kräftig stieß er die kurze, schlanke Klinge bis zum Heft in den Brustkorb des alten Mannes, genau in dessen Herz. Dann ließ er den Griff los und zeichnete mit dem Daumen einen Kreis auf seiner Brust. Er schluchzte.

Als Roise die Augen wieder öffnete, war Beordorffs Gesicht erschlafft. Zwei stumpfe Augäpfel fixierten ihn, klagten ihn an. Bei Nefem, es war nicht sein Wille gewesen, den Alten zu töten! Und war es nicht letztlich ein Akt der Gnade gewesen, unter diesen Umständen?

Er trat zurück von dem Toten, nahm die Fackel aus ihrer Halterung an der Wand und ging in die Vorkammer. Unter den hier Versammelten gab es kaum ein Gesicht, das er von früher kannte; wahrscheinlich galt umgekehrt dasselbe. Falls dieser Malter zurückkommen sollte, würde sich niemand daran erinnern, Roise in der Spalte, die sich hinter einem Felsvorsprung befand, verschwinden gesehen zu haben.

Dahinter lag ein kurzer, schmaler Kriechgang. Obwohl er kein Kind mehr war, gelang es ihm fast mühelos, ihn zu überwinden. Schon bald erreichte er die Stelle, an der die Höhle wieder weiter wurde. Er kam zügig voran, ohne sich zu beeilen. Schließlich, etwa eine halbe Meile von dem Höhleneingang entfernt, wo Malter vergeblich auf ihn wartete, streckte er seinen Kopf durch einen Eingang, der sich im Unterholz verbarg.

Er war auf sich allein gestellt, aber damit kam er gut zurecht. Er würde Lonebrüggen lange vor Malter erreicht haben, denn er wusste, wo diese Stadt lag; er musste sie nicht erst suchen. Auch wenn der Weg bis dorthin ein weiter war.

Seine Mentoren würden zufrieden sein.