Nebelschwaden ziehen durch unsere Leben.
Sie haben nichts gemein mit den späten Herbstnebeln, die uns frösteln lassen, oder den Sommernebeln, die uns in den Morgenstunden noch vor der brütenden Tageshitze schützen. Auch sehen können wir sie nicht, denn es sind farblose Schwaden, die an uns vorüberziehen, durch uns hindurch. Es sind die Nebel des Vergessens; ein gleichmäßiger Fluss, dem wir willenlos ausgesetzt sind; der, sowie er unseren Geist berührt, rastlos weiterzieht, doch immer und immer wiederkehrt. Stück für Stück nimmt er dabei einen Teil dessen, was uns zu dem gemacht hat, wer wir sind, mit sich. Trotzdem sind wir immer noch wir selbst; wir trauern nicht, führen unser Leben weiter, als wäre nichts geschehen. Denn es ist nichts geschehen.
Der Nebel zieht durch die Zeit, reißt Wissen und Erfahrung mit sich und verschleiert zugleich das, was wir Wahrheit nennen. Je weiter wir zurückblicken, desto unwirklicher erscheint uns unsere eigene Vergangenheit; beinahe so wie Wein, der nicht mehr nach Wein schmeckt, wenn man ihn verwässert. Denn was das Wasser für den Wein ist, sind die Nebelschwaden für die Zeit: Was heute eine Gegebenheit ist, wird morgen zum Gerücht und gerät übermorgen in Vergessenheit – oder wird zur Legende.
Wenn uns Legenden zu Ohren kommen, so liegt es an uns zu entscheiden, ob wir daran glauben oder nicht. Legenden gelten als Überlieferungen des einfachen Volkes; kein Gelehrter hat sie aufgeschrieben, kein Historiker wurde dafür bezahlt, sie festzuhalten. Sie werden über den Rand eines Bierkruges hinweg erzählt, weitergetragen von Händlern, ausgeschmückt von fahrenden Sängern. Mit jedem Mal, dass eine Legende erzählt wird, erscheint sie unglaubwürdiger, beinahe unvorstellbar; die äußere Hülle der Erzählung wächst und wächst, wird bunter, großartiger, heldenhafter, doch ihr wahrer Kern schmilzt und verdunstet. Als hätte er nie existiert.
Eine dieser Überlieferungen handelt von den Rittern der Hoffnung. In schlechten Zeiten ist es diese Legende, die ausgegraben wird aus den Kindheitserinnerungen alter Männer, die den Jungen und sich selbst Mut machen wollen. Wann ist es besser, in der Erinnerung glorreicher Tage zu schwelgen, wenn nicht dann, wenn man sich diese herbeisehnt? In Zeiten der Not, zuweilen bar jeder Vernunft, erinnert uns diese Legende daran, dass das, was dereinst geschehen sein mag, wieder geschehen kann. Wenn Unruhen und Krieg das Land überziehen, wenn Dörfer brennen und unschuldige Menschen sterben, wenn Machtgier und Tyrannei die Oberhand gewinnen, dann erinnern wir uns an die Ritterschaft, wie sie unter dem Banner der Hoffnung reitet, und an den Drachen, der aufsteigt und über die feindlichen Heere hinwegfegt.
Und letztendlich siegen wird.
Doch die Legende der Hoffnung ist alt. Viele Jahrhunderte hat sie durchwandert, die Nebelschwaden haben sie durchsetzt, haben selbst den Glauben daran zur Legende werden lassen. Die Menschen haben die Zeiten der Drachen längst vergessen, wissen nichts über die Erhabenheit dieser Kreaturen und ihrer reinen Gesinnung. Erzählte man ihnen davon, so pflanzte man Angst statt Hoffnung in ihren Herzen.
Jabe Malter aber hatte nicht vergessen. Für ihn war die Ritterschaft der Hoffnung mehr als eine Legende; für ihn war es sowohl die Geschichte seines Vaters als auch die Geschichte seiner Ahnen. Oft hatte er gehört von König Theoran, dem Frauenschänder, dessen Armee in einer alles entscheidenden Schlacht vernichtend geschlagen werden konnte; vom Niedergang des aufstrebenden Reiches Baranbasz, das seine benachbarten Nationen erobert und freie Bürger versklavt hatte; vom fünfundfünzigjährigen Krieg des Ostens, den der Drache mit einem Sieg über die Usurpatoren beendet hatte. Die Ritterschaft und der Drache waren zu jeder misslichen Zeit zur Stelle gewesen und hatten dazu beigetragen, Velyrio so zu formen, wie es heute existierte: Nicht alles war friedlich, aber freie Menschen bevölkerten Nationen, die dem Schutt untergegangener, kriegerischer Reiche entstiegen waren. Junge Nationen wuchsen und festigten sich, und Stabilität breitete sich dort aus, wo früher Chaos geherrscht hatte.
Doch mit dem Chaos war auch der Drache verschwunden. Niemand wusste, was mit ihm geschehen war; es gab sie nicht, diese letzte aller Geschichten, die über sein Ende berichtete: War er geflohen, verschollen oder gar tot? Falsche Legenden waren es, so erzählte der Vater, die zu wissen vorgaben, was mit dem Drachen und der Ritterschaft der Hoffnung geschehen war. Nur Jabes Familie kannte den Teil der Wahrheit, der die Ritterschaft betraf: Mit dem Verschwinden des Drachen hatte sie einfach aufgehört zu existieren. Es waren nie die Männer gewesen, die den Glauben an etwas Größeres aufrecht hielten; ohne den Drachen gab es keine Ritterschaft, und Glaube und Hoffnung überdauerten die Zeit auch ohne sie.
Jabe glaubte, und er hatte einen handfesten Grund dazu: Ein Amulett, von seinem Vater geerbt, so wie dieser von seinem. Generation um Generation wurde das Schmuckstück weitergereicht: einen schlichten Anhänger aus gehärtetem Stahl, mit einem Umfang wie der einer Faust. Seine äußere Form war die eines Kreises, seine Darstellung die einer Metamorphose; das menschliche Kreuz als Grundform, mit Kopf, Beinen und ausgestreckten Armen, die sich in einer Drehung in etwas anderes verwandelte – in etwas Animalisches, Schuppiges, mit dem Kopf einer Bestie und den Schwingen einer riesigen Fledermaus. Auch wenn der Anhänger Jabe in vielerlei Hinsicht ein Rätsel war, so bewies er ihm doch eines: Er entstammte der Blutslinie des Gründers der Ritterschaft, und seine Ahnen hatten Großes vollbracht.
Doch wenn auch einst kriegerische Ehrenmänner Jabes Stammbaum bestimmt hatten, so waren die Malters seit vielen Generationen nur noch eines: Tischler, für die die Weitergabe ihrer Kunst wichtiger geworden war als die Erinnerung an eine Legende – ein Vermächtnis, das den Bauch nicht zu füllen vermochte. Für Jabes Vater waren deshalb die Geschichten immer Geschichten geblieben. Er selbst aber hatte bereits als Kind daran glauben wollen, dass hinter dieser Legende mehr steckte als nur ein altes Amulett.
Seine Überzeugung hatte ihm letztlich an jenem schicksalhaften Tag dazu bewogen, sein glückliches, wenn auch bescheidenes Leben hinter sich zu lassen. Ein Ruf aus einer fernen, unwirklichen Vergangenheit war zu ihm geeilt, und gemeinsam mit Freunden war er ausgezogen, sein Erbe anzutreten. Und wie in längst vergangenen Tagen hatten sie sich die Ritterschaft der Hoffnung genannt.
Heute, siebzehn Jahre später, hatte Jabe längst verdrängt, was damals geschehen war. Drei Jahre lang war er herumgeirrt und letztlich gescheitert: Anstatt den Drachen zu finden, hatte er seine Hoffnung verloren. Als gebrochener Mann war er heimgekehrt und hatte nur mit Mühe zurückgefunden in das Leben eines Handwerkers – und Vaters.
Aber war es das, was er hatte finden wollen? Der Nebel des Vergessens hatte sich Jahr für Jahr verdichtet, doch Jabes Glauben vollends zu zersetzen war den Schwaden nicht gelungen. Immer noch lauerte eine Sehnsucht in ihm, ein ungestilltes Verlangen, das es ihm unmöglich machte, sein Versagen zu vergessen. Immer wieder lichtete sich der Nebel und gewährte ihm einen trügerischen Blick auf das, was hätte sein können: auf eine Zukunft, in der er nicht versagt hatte.
Wie viel bedarf es letztlich dazu, den Nebel zu vertreiben, damit ein Mann sich seiner Vergangenheit stellt – und seiner Zukunft?
Die Sonne stand bereits tief über Turmwacht. Die Reste eines langen Sommers lagen in der Luft, gleichzeitig wurden die Schatten der Häuser von Tag zu Tag länger. Bereits in wenigen Zehntagen würde ihm frösteln, wenn er wie jetzt nur ein einfaches Wollhemd trug, ohne Umhang oder Mantel. Vereinzelte Windböen zeugten schon heute vom nahenden Herbst. Dennoch könnte er den Nachhauseweg genießen, wäre da nicht Eniaks verdrießliche Miene. Sein Sohn presste den Mund zu einem schmalen Strich zusammen und ließ die Schultern hängen; etwas, das man an ihm nur selten sah.
„Du bist geschickt und lernst schnell“, sagte Jabe und klopfte Eniak auf den Rücken. Sein Sohn jedoch reagierte nicht darauf.
Jabe seufzte. In den vergangenen Monaten hatte er diese Zeit des Tages zu schätzen gelernt, zählte sie doch zu den wenigen Gelegenheiten, in denen er sich allein mit seinem Sohn unterhalten konnte. Tagsüber missbilligte Meister Abelts scharfes Auge jegliche Ablenkung von der Arbeit, abends wartete Seirena auf sie. Jabes Frau war sehr eingenommen, was ihren Sohn betraf; in seinen Augen hingegen war Eniak viel zu lange zu Hause geblieben. Seine Frau hatte sich wohl darum gekümmert, dass der Bub lesen und schreiben lernte, doch hatte sie ihn zu lange von der Welt ferngehalten. Jetzt, da Eniak gemeinsam mit ihm in Meister Abelts Werkstatt arbeitete, hatte sich einiges geändert.
Nach einer Weile lächelte Eniak halbherzig. „Wenn es so ist, warum hat dann Meister Abelt nie ein gutes Wort für mich übrig? Wenn ich Holz vom Lager hole, dann schreit er mir dreimal hinterher, dass ich bloß ja nicht das falsche nehme, und wenn ich zum Werkzeug greife, dann verzieht er den Mund, als ob ich im nächsten Moment alles ruiniere.“ Immer noch ließ er die Schultern hängen, was Jabe daran erinnerte, dass Eniak trotz seiner sechzehn Jahre erst lernen musste, sich in der Welt der Erwachsenen zurechtzufinden. Eine Entwicklung, die dank Seirena hinausgezögert worden war.
Jabe hob die Hand, um einen Mann, dem er letzten Monat einen Tisch und drei Stühle gezimmert hatte, zu grüßen. „Mach dir darüber keine Gedanken. Er kann nur nicht glauben, dass du dich in seiner Werkstatt zurechtfindest, als würdest du bereits seit langem dort arbeiten. Außerdem gibt es vielleicht auch einen Grund, der nichts mit dir zu tun hat.“
„Was meinst du damit? Welchen Grund?“
Jabe ärgerte sich über seine unbedachten Worte. Schweigend ging er weiter durch die belebte Straße. Turmwacht war nicht annähernd so groß wie Amalie, die Hauptstadt von Kyrosa, aber als zweitgrößte Stadt Sitz eines der mächtigsten Männer des Landes, des Großfürsten des Westens. Längst erinnerte nur noch das Wappen der Stadt, ein Turm mit zwei ihm flankierenden Soldaten, daran, dass Turmwacht einst nichts weiter gewesen war als eine kleine Garnison am Rande des Reiches.
Heutzutage füllten Händler aus aller Welt Turmwachts Straßen – Kaufleute, die entweder auf der Durchreise waren oder hier ihre Waren feilboten, an jedem nur erdenklichen freien Platz. Selbst die breiteste Straße verwandelte sich in ein Nadelöhr, wenn Krämerläden ihre Waren feilboten, die ansonst auf Turmwachts Märkten nicht zu finden waren. „Seide! Feinste esetrische Seide!“, tönte es zu seiner Linken, während ein trakkesischer Händler mit hoher Stimme seine Gewürze anpries; Kümmel, Rosmarin und Thymian, Kurkuma, Ingwer und edle Safranfäden, unterbrochen von einer wütenden Tirade, als der Ochsenkarren eines Bauern gegen den Gewürzladen stieß.
„Welcher Grund, Vater?“, fragte Eniak erneut, als der Wirbel um sie herum abebbte.
„Ich hätte längst mit dir darüber sprechen sollen. Der griesgrämige Abelt wird seine Vermutung nicht mehr lange für sich behalten, fürchte ich, und du sollst es nicht erst dann erfahren, wenn wir deswegen einander in die Haare geraten.“
„Wovon redest du?“
„Vor vielen Jahren, du warst noch nicht geboren, da habe ich eine eigene Werkstatt besessen. Sie hat meinem Vater gehört, und nach seinem Tod mir.“ Er sah vor sich auf die Straße, jedoch spürte er Eniaks Blick auf sich ruhen. „Jedenfalls habe ich mit deiner Mutter darüber gesprochen, sie wieder rückzukaufen.“
„Du meinst, Meister Abelts Werkstatt ist in Wahrheit deine?“
„Nein, natürlich nicht“, sagte Jabe. „Der alte Abelt hat sie von seinem Vater geerbt, genau wie ich von meinem. Und es ist mir wichtig, dass auch ich dir etwas hinterlasse. Seit Generationen ist sie im Besitz unserer Familie gewesen.“
„Warum besitzt du sie nicht mehr?“
„Das ist eine lange Geschichte, mein Sohn.“
„Ist es dieselbe Geschichte, weswegen Mutter mit dir ständig streitet?“
„Was für dich wie Streit klingt, sind nur Gespräche, die Erwachsene eben so führen. Du wirst es schon noch früh genug selbst erleben.“
„Wenn ich einmal verheiratet bin, werde ich meine Frau nicht verlassen und für viele Jahre im Ungewissen lassen.“
Beinahe blieb Jabe stehen, um seinen Sohn zurechtweisen. In dessen Augen jedoch spiegelte sich so viel Trotz wider, dass stattdessen andere Worte über seine Lippen kamen.
„Ja, ich bin fortgewesen. Es war zu jener Zeit, als deine Mutter gezwungen war, die Werkstatt zu verkaufen. Ich mache ihr deswegen keinen Vorwurf.“
„Aber sie dir“, sagte Eniak. „Du hörst sie doch nie, wenn sie darüber jammert, dass es uns viel besser gehen könnte. Sie ist jedes Mal, nachdem ihr euch gestritten habt, unausstehlich!“
„Sprich nicht so von deiner Mutter!“
„Nach euren Streitereien behandelt sie mich meist so rüde, als würdest immer noch du vor ihr stehen. Oder sie sagt Dinge wie ‚Eniak, wenn du einen Bruder hättest‘ oder ‚Wenn du eine Schwester hättest‘. Hast du das gewusst, Vater?“
Jabe gab jäh einen schnellen Schritt vor. Es dauerte eine Weile, bis Eniak ihn wieder einholte.
„Du verstehst das nicht, und es geht dich auch gar nichts an“, sagte er schroff.
„Es geht mich nichts an – und trotzdem muss ich mir euer ständiges Gezänke anhören, wo viel zu oft mein Name fällt! Aber wenn ich dich oder Mutter darauf anspreche, weicht ihr mir aus. Schlimmer noch, ihr lügt mich an!“
Noch bevor Jabe nachdenken konnte, hob er seine Hand. Doch er schlug seinen Sohn nicht. Die Hand verfing sich in Eniaks Hemdkragen und packte fest zu.
„Sprich nie wieder so zu mir“, sagte er ruhig und ignorierte dabei die Wut in den Augen seines Sohnes. Selten hatte er ihn gezüchtigt, und auch jetzt tat es ihm leid, ihn so hart anzufassen.
„Und was erwartest du jetzt von mir?“, fragte Eniak. „Soll ich mich entschuldigen?“
Niemand war stehen geblieben, niemand beobachtete sie. „Ich erwarte von dir, dass du uns vertraust, dass wir das Beste für dich wollen“, sagte Jabe und zog seine Hand zurück. „Auch wenn wir uns nicht immer einig sind.“
Sie gingen weiter, doch ihr Schweigen war Jabe eine schwere Last. „Wie denkst du über eine eigene Werkstatt?“, fragte er daher.
Eniak zuckte mit den Schultern, ohne ihn anzusehen.
„Du kennst doch das Haus des alten McCann“, fuhr Jabe fort, „und du kennst die Gasse dahinter, in der Finn und Lira Nebet ihre kleine Bäckerei betreiben. Dort ist auch –“
So abrupt, wie seine Worte versiegten, blieb er auch stehen. Er runzelte die Stirn, als er unvermittelt einen Reiter in der Menschenmenge bemerkte. Obwohl er den Mann viele Jahre nicht gesehen hatte, erkannte er ihn sofort wieder. Alwart Lisken hatte sich kaum verändert. Sein Körper war immer noch so stämmig wie vor Jahren, selbst seine Haltung hatte sich ihren jugendlichen Stolz bewahrt. Hoch auf seinem Pferd könnte man meinen, er sei als König zurückgekehrt. Einzig seine abgetragene, verstaubte Kleidung bewies das Gegenteil.
„Vater?“
Jabe blinzelte, und im selben Moment wurde er von Alwart entdeckt, der näher kam und sein Pferd unmittelbar vor Jabe zügelte.
„Alwart“, sagte Jabe, „lange nicht mehr gesehen.“
„Jabe. Alt bist du geworden, mein Freund.“
Jabe seufzte still. Im Gegensatz zu seinem dichten, dunklen Haar, das die Jahre mit Grau durchzogen hatten, glänzte Alwarts helles Haar noch so wie damals, und dessen volles Gesicht zeigte nur vereinzelte und wenig tiefe Falten. Nicht so wie seines, das ein Leben voll Kummer und schwerer Arbeit und Enthaltsamkeit verriet.
„Man sollte es nicht glauben, dass ich deinetwegen eine so lange Reise in Kauf genommen habe“, fuhr Al fort. „Aber wie du siehst, bin ich hier.“
Jabe verzog keine Miene.
Vom Sattel seines Pferdes sah Alwart auf ihn herab. „Als du uns verlassen hast, hast du viel Unsicherheit in der Bruderschaft hinterlassen. Wir sind vielleicht mit den Jahren weniger geworden, aber viele von uns haben die Hoffnung nie aufgegeben. Die Bruderschaft existiert, Jabe.“
Alwarts Worte trafen ihn tief; tiefer, als er je zugäbe. Die Bruderschaft – wie lange schon hatte er diese Bezeichnung nicht mehr gehört? Ein Schauer lief ihm über den Rücken, beinahe so, als streifte ihn ein kalter Novembernebel. Er erinnerte sich und wusste, was Al meinte: Nicht nur er selbst, sondern auch andere hatten sich von Alwart abgewendet, waren nach Turmwacht zurückgekehrt, zu ihren Familien. Henif Murdokk, der Müllersohn, Laycee Finnagan, Milt Berdun und Kurd Ranseem, der vor sieben Jahren bei Waldarbeiten ein Bein verloren hatte. Und noch einige mehr. Mit manchen von ihnen traf Jabe sich heute noch hin und wieder, doch über die alten Zeiten sprach niemand mehr.
Alwarts Brauner tänzelte seitwärts, woraufhin sich Eniak mit einem Sprung in Sicherheit bringen musste. Al schien den Jungen nicht wahrzunehmen.
„Jeder von uns hat sein Leben gewählt“, sagte Jabe. „Was willst du von mir?“
Al verzog den Mund zu einem Grinsen. „Wir sind keine Banditen. Wir sind ehrenhafte Männer. Komm mit uns, Jabe.“
Jabe sah den Mann auf dem Pferd ungläubig an. „Nach allem, was zwischen uns vorgefallen ist?“
„Was ist denn schon passiert? Wir hatten ein paar Meinungsverschiedenheiten, das ist alles.“
„Meinungsverschiedenheiten? Wir sind zwei Jahre lang einem Gespenst hinterhergejagt. Zwei Jahre, Al! Als ich gegangen bin, bin ich nicht in Freundschaft gegangen. Weißt du das noch? Mach mir also keinen Vorwurf, weil du heute da bist, wo du bist. Du wolltest es nie anders!“
Ja, dachte Jabe, da Alwart nicht aufhörte zu grinsen, so hast du dich entwickeln müssen. Und ich hätte es von Anfang an wissen müssen. Wäre nicht er dem Ruf seines Erbes gefolgt, dann hätte Al von Beginn an den Haufen, der sich die Ritterschaft der Hoffnung nannte, angeführt. So betrachtet konnte ihm Alwarts Gehabe kalt lassen. Er entspannte sich; er hatte nichts mehr mit dieser Sache zu tun, und Alwart konnte ihn nicht beleidigen.
Der Mann auf dem Pferd überging Jabes Ausbruch. „Lass uns darüber reden, Jabe. Aber nicht hier. Heute Abend beim ‚Alten Stallmann’. Es gibt viel zu erzählen.“
„Den ‚Alten Stallmann’ gibt es nicht mehr. Abgebrannt.“
„Was für ein Jammer. Der dicke Elkenzie hatte das beste Bier von allen. Er braut doch noch, oder?“
„Bill haben sie in seiner Spelunke beerdigt. Er ist verbrannt, genauso wie zwei Dutzend seiner Gäste.“
In dem Augenblick, als Alwart seinen Kopf hob, um auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne zu blicken, erkannte Jabe seinen Freund wieder; nicht den von sich eingenommenen Menschen, zu dem er geworden war, sondern seinen alten Kumpel, mit dem er nächtelang Bier getrunken und über die Zukunft gegrübelt hatte. Al war es gewesen, dem Jabe sich anvertraut hatte mit seinem Vermächtnis, und gemeinsam hatten sie Pläne geschmiedet, die Bruderschaft unter dem Banner des Drachen reiten zu lassen. Eine närrische Idee, die tausende Meilen von Turmwacht entfernt geplatzt war wie eine aufgeblasene Kröte.
Nicht der vergangenen Zeiten wegen, sondern weil Alwart ewig der Mensch blieb, dem Todesnachrichten zu schaffen machten, schlug Jabe vor: „Wie wär’s mit dem ‚Kleinen Wagen’? Millies Bier mag nicht das beste sein, aber sie lässt ihre Mädchen singen und tanzen.“
Al nickte. „Dann also bis heute Abend“. Er wendete sein Pferd und verschmolz mit der Menge, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Jabe starrte selbst dann noch in Alwarts Richtung, als jener schon längst nicht mehr zu sehen war.
„Wer war das, Vater? Ist das einer der Männer, mit denen du damals weg gewesen bist?“
„Ja, Sohn. Das war Alwart Lisken.“
Eniak zog die Augenbrauen zusammen, als wartete er auf mehr; doch Jabe hatte ihm nicht mehr zu erzählen. Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück. Verblasst war die Vorstellung einer eigenen Werkstatt. Jabe rätselte, was es mit Alwarts Auftauchen auf sich hatte, und schwor sich zugleich eines: Nichts und niemand brächte jemals wieder seine Familie auseinander.
„Alwart ist wieder in der Stadt!?“
Seirena spie ihm die Worte entgegen, während sich ihre Finger in der Schürze festkrallten. Gerade eben war sie noch dabei gewesen, Gemüse zu putzen, und Jabe war froh, dass sie das Messer zur Seite geschleudert hatte und nicht auf ihn.
In den Jahren ihres Beisammenseins war seine Frau nur selten hysterisch geworden. Sie war wütend, verärgert, fassungslos – dahinter aber verbarg sich eine einzige Emotion: Angst. Er wusste das nur zu gut. Einst hatte er Seirena wegen einer Idee verlassen, einer vagen Hoffnung, dass er zu Größerem berufen wäre. Die Treue und Zuneigung seiner jungen Frau mochte so unnachgiebig wie eine Klinge aus Stahl gewesen sein, wie es ihrem Glauben und ihrer Erziehung entsprach; doch während der Zeit ihrer Trennung hatte sich ein Haarriss in diesem Stahl gebildet. Jabe hatte ihn niemals zu Gesicht bekommen, auch nicht damals bei seiner Heimkehr. Doch hier ist er, erkannte er, die ganze Zeit über ist er da gewesen. All die Streitigkeiten in den vergangenen Jahren hatten ihn nicht darauf vorbereiten können, was nun geschehen mochte.
„Wir haben ihn zufällig auf der Straße getroffen“, sagte er vorsichtig. „Er ist uns entgegengeritten, und wir haben einander begrüßt.“
„Ihr habt euch gestritten“, sagte Eniak.
„Was wollte er von dir? Sag nicht, er hat dieses … dieses Hirngespinst einfach fallen gelassen! Er war doch ebenso besessen davon wie du und ist es bestimmt immer noch. Du wirst ihn nicht wieder sehen, hörst du? Er bringt dich bloß in Schwierigkeiten, aber bei Nefem, ich schwöre dir, ich mache das nicht noch einmal mit!“
„Welche Schwierigkeiten?“, fragte Eniak.
„Geh auf deine Kammer, Sohn“, sagte Jabe. „Das geht nur mich und deine Mutter etwas an.“
„Aber – ihr könnt mich nicht ständig ausschließen!“
„Hör auf deinen Vater und geh!“, schrie Seirena.
Seine Frau hatte ein schmales Gesicht, aus dem ihre große Nase wie ein Schnabel herausstach, und mit aufgerissenen Augen sah sie umso mehr aus wie ein Habicht auf der Suche nach Beute.
„Seirena, nicht. Er kann doch nichts dafür. Er ist bloß neugierig.“
„Neugierig? Ist es das, was du damals warst? Oh ja, ich weiß noch, was passiert ist, als du neugierig gewesen bist! Du bist gegangen – für drei lange Jahre! Verlange nicht von mir, dass ich erneut zusehe! Ich bin nicht mehr so gutgläubig wie damals, Jabe!“
Nicht nur du bist naiv gewesen, dachte Jabe. Als er damals fortgeritten war, war Seirena schon längst schwanger gewesen; falls sie es selbst gewusst hatte, so hatte sie es ihm verheimlicht. Er war mit dem Versprechen gegangen, in wenigen Zehntagen zurück zu sein, obwohl er selbst es besser gewusst hatte. Für Seirena waren es Jahre der Unsicherheit und der Entbehrungen geworden, ohne ein Lebenszeichen ihres Mannes. Eniak hatte bereits laufen und sprechen gelernt, bevor er seinen Vater kennenlernte. Seirena hatte Jabe wieder bei sich aufgenommen; nicht nur ihres Sohnes wegen, wie er vermutete. Oder hoffte.
„Seirena, niemand wird gehen. Ich –“
„Hör auf! Für wie dumm hältst du mich? Er ist hier, um dich zu holen. Um euch beide zu holen!“
„Uns holen? Wohin will er mit uns?“, fragte Eniak.
„Geh“, wiederholte Jabe.
„Aber Vater –“
„Sofort!“
Mürrisch gehorchte Eniak. Er stieg hinauf in seine Dachkammer und schloss die Luke hinter sich.
Seirena setzte sich und legte ihre Hände auf den Tisch. Sie zitterten. „Wir haben eine Familie, Jabe. Nichts ist mehr so wie damals. Sieh dich an, du bist alt.“ Jabe wollte widersprechen, unterließ es aber. Für keine seiner Worte wäre seine Frau im Moment zugänglich. „Du hast noch Pläne, Jabe, vergiss das nicht. Ich weiß, ich wollte sie dir ausreden, aber nur weil ich Angst um Eniak habe. Ich will nicht, dass er …“
Seirena versagten die Worte.
Dass er so wird wie ich?, dachte Jabe den Satz fertig. Er ließ sich auf einen Stuhl sinken, hilflos und unfähig, seine Frau zu beruhigen. Wenn er wenigstens ihre Gedanken erahnte, sie verstünde … doch so sah er nur, wie sie schluchzte, um Fassung rang, mit sich selbst rang. Und verlor.
„Geh! Warum gehst du nicht?“ Sie ließ ihre Tränen fließen. „Geh mit Alwart und all den anderen! Wir kommen auch ohne dich zurecht!“
„Seirena, niemand geht. Ich liebe –“
„Lüge! Lügner! Alles Lüge! Geh einfach! Aber Eniak bleibt bei mir! Er ist mein Sohn! Ich werde nicht zulassen, dass ihr ihn mit eurem krankhaften Wahn ansteckt. Hoffnung? Ihr sprecht immerzu von Hoffnung, aber was ist mit der Hoffnung einer Familie? Was ist mit meiner Hoffnung? Ich bin es, die am Ende allein hier sitzt, wenn ich einfach zusehe! Du hast keine Ahnung, was es heißt, tagaus tagein zu warten und zu hoffen. Ich will nicht hoffen müssen, dass ihr zurückkommt, verstehst du das? Ich will, dass ihr bleibt. Und wenn du gehst, dann werde ich nicht noch einmal warten. Aber Eniak bleibt hier!“
Allmählich begriff Jabe. Er hatte alles Vertrauen seiner Frau verspielt, und das schon vor langer Zeit. Er erhob sich und sank vor seiner Frau auf die Knie, um sie in die Arme zu nehmen. „Meine liebste –“
„Du kannst knien, um zu beten“, wies Seirena ihn ab, „aber dann nenne Nefem beim Namen und nicht mich!“ Dann konnte sie nicht mehr. Zu viele Worte hatte sie in zu kurzer Zeit gesagt. Sie riss die Hände in die Höhe und vergrub ihr Gesicht darin. Ihr Körper bebte, und sie schluchzte heftig.
Die Zeit verstrich. Ihr Weinen ließ nach, und stattdessen begann sie zu flüstern. Jabe verstand die Worte nicht, aber sehr wohl ihren Sinn: Seirena betete. Es würde sie erfreuen, wenn auch ich betete. Aber wenn es vieles gab, an das er glaubte, Nefem gehörte nicht dazu. Er stand aus seiner knienden Haltung auf und setzte sich. Nein, Jabe glaubte an den Menschen und an die Hoffnung, die er sich selbst gab. Nicht zum ersten Mal stellte er fest, dass sich das mit den Jahren nicht geändert hatte.
Eine Weile saßen sie so da; Seirena betend, Jabe in Gedanken versunken. Nie zuvor hatte er erfahren, wie kalt Schweigen sein konnte. Auch wenn er vor so vielen Jahren versucht hatte, das Richtige zu tun, so sah er heute, dass das Richtige auch gleichzeitig das Falsche sein konnte. Es reichte nicht, wenn er mit der Vergangenheit abschloss. Die Vergangenheit musste mit ihm abschließen.
Er konnte noch alles zum Guten ändern. Er musste nur dafür sorgen, dass Alwart wieder aus ihrem Leben verschwand.
Ohne ein weiteres Wort stand Jabe auf und verließ das Haus.
Jabe hob die Hand, um einen Mann, dem er letzten Monat einen Tisch und drei Stühle gezimmert hatte, zu grüßen. „Mach dir darüber keine Gedanken. Er kann nur nicht glauben, dass du dich in seiner Werkstatt zurechtfindest, als würdest du bereits viel länger dort arbeiten. Außerdem gibt es vielleicht auch einen Grund, der nichts mit dir zu tun hat.“
Kaum hatte er das ausgesprochen, schüttelte er ärgerlich den Kopf.
„Was meinst du damit? Welchen Grund?“
Jabe schwieg und ging weiter durch die belebte Straße. Turmwacht war nicht annähernd so groß wie Amalie, die Hauptstadt von Kyrosa, aber als zweitgrößte Stadt Sitz eines der mächtigsten Männer des Landes, des Großfürsten des Westens. Längst erinnerte nur noch das Wappen der Stadt, ein Turm mit zwei ihm flankierenden Soldaten, daran, dass Turmwacht einst nichts weiter als eine kleine Grenzstadt gewesen war.
Heutzutage füllten Händler aus aller Welt Turmwachts Straßen – Kaufleute, die entweder auf der Durchreise waren oder hier ihre Waren feilboten, an jedem nur erdenklichen freien Platz. Selbst die breiteste Straße wurde zu einem Nadelöhr, wenn Krämerläden ihre Waren feilboten, die ansonst auf Turmwachts Märkten nicht zu finden waren. „Seide! Feinste esetrische Seide!“, tönte es zu seiner Linken, während ein trakkesischer Händler mit hoher Stimme seine Gewürze anpries; Kümmel, Rosmarin und Thymian, Kurkuma, Ingwer und edle Safranfäden, unterbrochen von einer wütenden Tirade, als der Ochsenkarren eines Bauern gegen den Gewürzladen stieß.
„Welcher Grund, Vater?“, fragte Eniak erneut, als es wieder ein wenig leiser um sie herum wurde.
„Ich hätte längst mit dir darüber sprechen sollen. Der griesgrämige Abelt wird seine Vermutung nicht mehr lange für sich behalten, fürchte ich, und du sollst es nicht erst dann erfahren, wenn wir deswegen einander in die Haare geraten.“ Jabe seufzte und hielt inne.
„Wovon redest du?“
„Vor vielen Jahren, du warst noch nicht geboren, da habe ich eine eigene Werkstatt besessen. Sie hat meinem Vater gehört, und nach seinem Tod mir.“ Er sah vor sich auf die Straße, jedoch spürte er Eniaks Blick auf sich ruhen. „Jedenfalls habe ich mit deiner Mutter darüber gesprochen, sie wieder rückzukaufen.“
„Du meinst, die Werkstatt, in der wir für Meister Abelt arbeiten, ist deine?“
„Nein, natürlich nicht“, sagte Jabe. „Der alte Abelt hat sie von seinem Vater geerbt, genau wie ich von meinem. Und es ist mir wichtig, dass auch ich dir etwas hinterlasse. Seit Generationen ist sie im Besitz unserer Familie gewesen.“
„Warum besitzt du sie nicht mehr?“
„Das ist eine lange Geschichte, mein Sohn.“
„Ist es dieselbe Geschichte, weswegen Mutter mit dir ständig streitet?“
Jabes Schritt verlangsamte sich. „Was für dich wie ein Streit klingt, sind nur Gespräche, die Erwachsene eben so führen. Du wirst es schon noch früh genug selbst erleben.“
„Wenn ich einmal verheiratet bin, werde ich meine Frau nicht verlassen und für viele Jahre im Ungewissen lassen.“
Jetzt blieb Jabe stehen. Er wollte seinen Sohn zurechtweisen, aber in dessen Augen spiegelte sich so viel Trotz wider, dass stattdessen andere Worte über seine Lippen kamen.
„Ja, ich bin fortgewesen. Es war zu jener Zeit, als deine Mutter gezwungen war, die Werkstatt zu verkaufen. Ich mache ihr deswegen keinen Vorwurf.“
„Aber sie dir“, sagte Eniak. „Du hörst sie doch nie, wenn sie darüber jammert, dass es uns viel besser gehen könnte. Sie ist jedes Mal, nachdem ihr euch gestritten habt, unausstehlich!“
„Wie sprichst du über deine Mutter!“
„Nach euren Streitereien behandelt sie mich meist so rüde, als würdest immer noch du vor ihr stehen. Oder sie sagt Dinge wie ‚Eniak, wenn du einen Bruder hättest‘ oder ‚Wenn du eine Schwester hättest‘. Hast du das gewusst, Vater?“
Jabe gab jäh einen schnellen Schritt vor. Es dauerte eine Weile, bis Eniak ihn wieder einholte.
„Du verstehst das nicht, und es geht dich auch gar nichts an, Sohn“, sagte er schroff.
„Es geht mich nichts an – und trotzdem muss ich mir euer ständiges Gezänke anhören, wo viel zu oft mein Name fällt! Aber wenn ich dich oder Mutter darauf anspreche, weicht ihr mir aus. Schlimmer noch, ihr lügt mich an!“
Noch bevor Jabe nachdenken konnte, hob er seine Hand. Doch er schlug seinen Sohn nicht. Die Hand verfing sich in Eniaks Hemdkragen und packte fest zu.
„Sprich nie wieder so zu mir“, sagte er ruhig und ignorierte dabei die Wut in den Augen seines Sohnes. Selten hatte er ihn gezüchtigt, und auch jetzt tat es ihm leid, ihn so hart anzufassen.
„Und was erwartest du jetzt von mir?“, fragte Eniak. „Soll ich mich entschuldigen?“
Niemand war stehen geblieben, niemand beobachtete sie. „Ich erwarte von dir, dass du uns vertraust, dass wir das Beste für dich wollen“, sagte Jabe und zog seine Hand zurück. „Auch wenn wir uns nicht immer einig sind.“
Sie gingen weiter, doch ihr Schweigen war Jabe eine schwere Last. „Wie denkst du über eine eigene Werkstatt?“, fragte er daher.
Eniak zuckte mit den Schultern, ohne ihn anzusehen.
„Du kennst doch das Haus des alten McCann“, fuhr Jabe fort, „und du kennst die Gasse dahinter, in der Finn und Lira Nebet ihre kleine Bäckerei betreiben. Dort ist auch –“
So abrupt, wie seine Worte versiegten, blieb er auch stehen. Er runzelte die Stirn, als er unvermittelt einen Reiter in der Menschenmenge bemerkte. Obwohl er den Mann viele Jahre nicht gesehen hatte, erkannte er ihn sofort wieder. Alwart Lisken hatte sich kaum verändert. Sein Körper war immer noch so stämmig wie vor Jahren, selbst seine Haltung hatte sich ihren jugendlichen Stolz bewahrt. Hoch auf seinem Pferd könnte man meinen, er sei als König zurückgekehrt. Einzig seine abgetragene, verstaubte Kleidung bewies das Gegenteil.
„Vater?“
Jabe blinzelte, und im selben Moment wurde er von Alwart entdeckt, der näher kam und sein Pferd unmittelbar vor Jabe zügelte.
„Alwart“, sagte Jabe, „lange nicht mehr gesehen.“
„Jabe Malter. Alt bist du geworden, mein Freund.“
Jabe seufzte still. Im Gegensatz zu seinem dichten, dunklen Haar, das die Jahre mit Grau durchzogen hatten, glänzte Alwarts helles Haar noch so wie damals, und dessen volles Gesicht zeigte nur vereinzelte und wenig tiefe Falten. Nicht so wie seines, das ein Leben voll Kummer und schwerer Arbeit und Enthaltsamkeit verriet.
„Man sollte es nicht glauben, dass ich deinetwegen eine so lange Reise in Kauf genommen habe“, fuhr Al fort. „Aber wie du siehst, bin ich hier.“
Jabe verzog keine Miene.
Vom Sattel seines Pferdes sah Alwart auf ihn herab. „Als du uns verlassen hast, hast du viel Unsicherheit in der Bruderschaft hinterlassen. Wir sind vielleicht mit den Jahren weniger geworden, aber viele von uns haben die Hoffnung nie aufgegeben. Die Bruderschaft existiert, Jabe.“
Alwarts Worte trafen ihn tief; tiefer, als er je zugäbe. Die Bruderschaft – wie lange schon hatte er diese Bezeichnung nicht mehr gehört? Ein Schauer lief ihm über den Rücken, beinahe so, als streifte ihn ein kalter Novembernebel. Er erinnerte sich und wusste, was Al meinte: Nicht nur er selbst, sondern auch andere hatten sich von Alwart abgewendet, waren nach Turmwacht zurückgekehrt, zu ihren Familien. Henif Murdokk, der Müllersohn, Laycee Finnagan, Milt Berdun und Kurd Ranseem, der vor sieben Jahren bei Waldarbeiten ein Bein verloren hatte. Und noch einige mehr. Mit manchen von ihnen traf Jabe sich heute noch hin und wieder, doch über die alten Zeiten sprach niemand mehr.
Alwarts Brauner tänzelte seitwärts, und Eniak musste sich mit einem Sprung in Sicherheit bringen. Al schien den Jungen nicht wahrzunehmen.
„Jeder von uns hat sein Leben gewählt“, sagte Jabe. „Was willst du von mir?“
Al verzog seinen Mund zu einem Grinsen. „Wir sind keine Banditen, Jabe. Wir sind ehrenhafte Männer. Komm mit uns.“
Jabe sah den Mann auf dem Pferd ungläubig an. „Nach allem, was zwischen uns vorgefallen ist?“
„Was ist denn schon passiert, Jabe? Wir hatten ein paar Meinungsverschiedenheiten, das ist alles.“
„Meinungsverschiedenheiten? Wir sind zwei Jahre lang einem Gespenst auf der Spur gewesen. Zwei Jahre, Al! Als ich gegangen bin, bin ich nicht in Freundschaft gegangen. Weißt du das noch? Mach mir also keinen Vorwurf, weil du heute da bist, wo du bist. Du wolltest es nie anders!“
Ja, dachte Jabe, da Alwart nicht aufhörte zu grinsen, so hast du dich entwickeln müssen. Und ich hätte es von Anfang an wissen müssen. Wäre nicht er dem Ruf seines Erbes gefolgt, dann hätte Al von Beginn an den Haufen, der sich die Ritterschaft der Hoffnung nannte, angeführt. So betrachtet konnte ihm Alwarts Gehabe kalt lassen. Er entspannte sich; er hatte nichts mehr mit dieser Sache zu tun, und Alwart konnte ihn nicht beleidigen.
Der Mann auf dem Pferd überging Jabes Ausbruch. „Lass uns darüber reden, Jabe. Aber nicht hier. Heute Abend beim ‚Alten Stallmann’. Es gibt viel zu erzählen.“
„Den ‚Alten Stallmann’ gibt es nicht mehr. Abgebrannt.“
„Was für ein Jammer. Der dicke McKenzie hat das beste Bier von allen gehabt. Er braut doch noch, oder?“
„Bill haben sie in seiner Spelunke beerdigt. Er ist verbrannt, genauso wie zwei Dutzend seiner Gäste.“
In dem Augenblick, als Alwart seinen Kopf hob, um auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne zu blicken, erkannte Jabe seinen Freund wieder; nicht den von sich eingenommenen Menschen, zu dem er geworden war, sondern seinen alten Kumpel, mit dem er nächtelang Bier getrunken und über die Zukunft gegrübelt hatte. Al war es gewesen, dem Jabe sich anvertraut hatte mit seinem Vermächtnis, und gemeinsam hatten sie Pläne geschmiedet, die Bruderschaft unter dem Banner des Drachen reiten zu lassen. Eine närrische Idee, die tausende Meilen von Turmwacht entfernt geplatzt war wie eine aufgeblasene Kröte.
Nicht der vergangenen Zeiten wegen also, sondern weil Alwart ewig der Mensch blieb, dem Todesnachrichten zu schaffen machten, schlug Jabe vor: „Wie wär’s mit dem ‚Kleinen Wagen’? Millies Bier mag nicht das beste sein, aber sie lässt ihre Mädchen singen und tanzen.“
Al nickte. „Dann bis heute Abend, Jabe“. Er wendete sein Pferd und verschmolz mit der Menge, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Jabe starrte selbst dann noch in Alwarts Richtung, als dieser schon längst nicht mehr zu sehen war.
„Wer war das, Vater? Ist das einer der Männer, mit denen du damals weg gewesen bist?“
„Ja, Sohn. Das war Alwart Lisken.“
Eniak zog die Augenbrauen zusammen, als wartete er auf mehr; doch Jabe hatte ihm nicht mehr zu erzählen. Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück. Verblasst war die Vorstellung einer eigenen Werkstatt. Jabe rätselte, was es mit Alwarts Auftauchen auf sich hatte, und schwor sich zugleich eines: Nichts und niemand brächte jemals wieder seine Familie auseinander.
„Alwart ist wieder in der Stadt!?“
Seirena spie ihm die Worte entgegen, während sich ihre Finger in der Schürze festkrallten. Gerade eben war sie noch dabei gewesen, Gemüse zu putzen, und Jabe war froh, dass sie das Messer zur Seite geschleudert hatte und nicht auf ihn.
In den Jahren ihres Beisammenseins war seine Frau nur selten hysterisch geworden. Sie war wütend, verärgert, fassungslos – dahinter aber verbarg sich eine einzige Emotion: Angst. Er wusste das nur zu gut. Einst hatte er Seirena wegen einer Idee verlassen, einer vagen Hoffnung, dass er zu Größerem berufen wäre. Die Treue und Zuneigung seiner jungen Frau mochte so unnachgiebig wie eine Klinge aus Stahl gewesen sein, wie es ihrem Glauben und ihrer Erziehung entsprach; doch während der Zeit ihrer Trennung hatte sich ein Haarriss in diesem Stahl gebildet. Jabe hatte ihn niemals zu Gesicht bekommen, selbst damals nicht, als er heimgekehrt war. Doch hier ist er, erkannte er, die ganze Zeit über ist er da gewesen. All die Streitigkeiten in den vergangenen Jahren hatten ihn nicht darauf vorbereiten können, was nun geschehen mochte.
„Wir haben ihn zufällig auf der Straße getroffen“, sagte er vorsichtig. „Er ist uns entgegengeritten, und wir haben uns begrüßt.“
„Ihr habt euch gestritten“, sagte Eniak.
„Was wollte er von dir? Sag nicht, er hat dieses … dieses Hirngespinst einfach fallen gelassen! Er war doch ebenso besessen davon wie du und ist es bestimmt immer noch. Du wirst ihn nicht wieder sehen, hörst du? Er bringt dich bloß in Schwierigkeiten, aber bei Nefem, ich schwöre dir, ich mache das nicht noch einmal mit!“
„Welche Schwierigkeiten?“, fragte Eniak.
„Geh auf deine Kammer, Sohn“, sagte Jabe. „Das geht nur mich und deine Mutter etwas an.“
„Aber – ihr könnt mich nicht ständig ausschließen!“
„Hör auf deinen Vater und geh!“, schrie Seirena.
Seine Frau hatte ein schmales Gesicht, aus dem ihre große Nase wie ein Schnabel heraus stach, und mit aufgerissenen Augen sah sie umso mehr aus wie ein Habicht auf der Suche nach Beute.
„Seirena, nicht. Er kann doch nichts dafür. Er ist bloß neugierig.“
„Neugierig? Ist es das, was du damals warst? Oh ja, ich weiß noch, was passiert ist, als du neugierig gewesen bist! Du bist gegangen – für drei lange Jahre! Verlange nicht von mir, dass ich erneut zusehe! Ich bin nicht mehr so gutgläubig wie damals, Jabe!“
Nicht nur du bist naiv gewesen, dachte Jabe. Als er damals fortgeritten war, war Seirena schon längst schwanger gewesen; falls sie es selbst gewusst hatte, so hatte sie es ihm verheimlicht. Er war mit dem Versprechen gegangen, in wenigen Zehntagen zurück zu sein, obwohl er selbst es besser gewusst hatte. Für Seirena waren es Jahre der Unsicherheit und der Entbehrungen geworden, ohne ein Lebenszeichen ihres Mannes. Eniak hatte bereits laufen und sprechen gelernt, bevor er seinen Vater kennenlernte. Seirena hatte Jabe wieder bei sich aufgenommen; nicht nur ihres Sohnes wegen, wie er vermutete. Oder hoffte.
„Seirena, niemand wird gehen. Ich –“
„Hör auf! Für wie dumm hältst du mich? Er ist hier, um dich zu holen. Um euch beide zu holen!“
„Uns holen? Wohin will er mit uns?“, fragte Eniak.
„Geh“, wiederholte Jabe.
„Aber Vater –“
„Sofort!“
Mürrisch gehorchte Eniak. Er stieg hinauf in seine Dachkammer und schloss die Luke hinter sich.
Seirena setzte sich und legte ihre Hände auf den Tisch. Sie zitterten. „Wir haben eine Familie, Jabe. Nichts ist mehr so wie damals. Sieh dich an, du bist alt.“ Jabe wollte widersprechen, unterließ es aber. Für keine seiner Worte wäre seine Frau im Moment zugänglich. „Du hast noch Pläne, Jabe, vergiss das nicht. Ich weiß, ich wollte sie dir ausreden, aber nur weil ich Angst um Eniak habe. Ich will nicht, dass er …“
Seirena versagten die Worte.
Dass er so wird wie ich?, dachte Jabe den Satz fertig. Er ließ sich auf einen Stuhl sinken, hilflos und unfähig, seine Frau zu beruhigen. Wenn er wenigstens ihre Gedanken erahnte, sie verstünde … doch so sah er nur, wie sie schluchzte, um Fassung rang, mit sich selbst rang. Und schließlich erneut zu schreien begann.
„Geh! Warum gehst du nicht?“ Sie ließ ihre Tränen fließen. „Geh mit Alwart und all den anderen! Wir kommen auch ohne dich zurecht!“
„Seirena, niemand geht. Ich liebe –“
„Lüge! Lügner! Alles Lüge! Geh einfach! Aber Eniak bleibt bei mir! Er ist mein Sohn! Ich werde nicht zulassen, dass ihr ihn mit eurem krankhaften Wahn ansteckt. Hoffnung? Ihr sprecht immerzu von Hoffnung, aber was ist mit der Hoffnung einer Familie? Was ist mit meiner Hoffnung? Ich bin es, die am Ende allein hier sitzen wird, wenn ich einfach zusehe! Du hast keine Ahnung, was es heißt, tagaus tagein zu warten und zu hoffen. Ich will nicht hoffen müssen, dass ihr zurückkommt, verstehst du das? Ich will, dass ihr bleibt. Und wenn du gehst, dann werde ich nicht noch einmal warten. Aber Eniak bleibt hier!“
Allmählich begriff Jabe. Er hatte alles Vertrauen seiner Frau verspielt, und das schon vor langer Zeit. Er erhob sich und sank vor seiner Frau auf die Knie, um sie in die Arme zu nehmen. „Meine liebste –“
„Du kannst knien, um zu beten“, wies Seirena ihn ab, „aber dann nenne Nefem beim Namen und nicht mich!“ Dann konnte sie nicht mehr. Zu viele Worte hatte sie in zu kurzer Zeit gesagt. Sie riss die Hände in die Höhe und vergrub ihr Gesicht darin. Ihr Körper bebte, und sie schluchzte heftig.
Die Zeit verstrich. Ihr Weinen ließ nach, und stattdessen begann sie zu flüstern. Jabe verstand die Worte nicht, aber sehr wohl ihren Sinn: Seirena betete. Es würde sie erfreuen, wenn auch ich betete. Aber wenn es vieles gab, an das er glaubte, Nefem gehörte nicht dazu. Er stand aus seiner knienden Haltung auf und setzte sich. Nein, Jabe glaubte an den Menschen und an die Hoffnung, die er sich selbst gab. Nicht zum ersten Mal stellte er fest, dass sich das mit den Jahren nicht geändert hatte.
Eine Weile saßen sie so da; Seirena betend, Jabe in Gedanken versunken. Nie zuvor hatte er erfahren, wie kalt Schweigen sein konnte. Auch wenn er vor so vielen Jahren versucht hatte, das Richtige zu tun, so sah er heute, dass das Richtige auch gleichzeitig das Falsche sein konnte. Es reichte nicht, wenn er mit der Vergangenheit abschloss. Die Vergangenheit musste mit ihm abschließen.
Er konnte noch alles zum Guten ändern. Er musste nur dafür sorgen, dass Alwart wieder aus ihrem Leben verschwand.
Ohne ein weiteres Wort stand Jabe auf und verließ das Haus.